Von überregionaler Bedeutung: Hochschulambulanz für Klinische Pharmakologie an der Uniklinik RWTH Aachen auf Erfolgskurs

Unter Polypharmazie versteht man die gleichzeitige und andauernde Einnahme mehrerer Wirkstoffe. Davon betroffen sind überwiegend ältere Menschen über 75 Jahre, denn sie leiden öfter an behandlungsbedürftigen Erkrankungen und bekommen infolgedessen verschiedene Medikamente verschrieben. Eine nicht individuell abgestimmte Arzneimitteltherapie birgt jedoch ernstzunehmende Risiken. Um Betroffenen zu helfen, hat die Uniklinik RWTH Aachen vor rund zwei Jahren die landesweit erste Hochschulambulanz für Polypharmazie ins Leben gerufen. Das Angebot der Polypharmazie-Sprechstunde erfreut sich seither großer Beliebtheit.

Allein in Europa lassen sich nach einer Einschätzung der Europäischen Kommission pro Jahr etwa 197.000 Todesfälle auf unerwünschte Arzneimittelwirkungen zurückführen. Bekannte Gründe für eine möglicherweise erhöhte Häufigkeit und Schwere von unerwünschten Nebenwirkungen sind neben den genetischen Voraussetzungen die regelmäßige gleichzeitige Einnahme von fünf oder mehr Medikamenten, auch Polypharmazie genannt, und die auftretende Koexistenz von zwei oder mehr Langzeiterkrankungen, die sogenannte Komorbidität. Hinzu kommen viele neuartige, komplexe Therapieansätze, die nicht nur aus einem Arzneimittel bestehen, sondern Kombinationen mehrerer Wirkprinzipien sind. Allein unter Berücksichtigung der Pharmakogenetik lassen sich bereits rund 30 Prozent unerwünschte Arzneimittelwirkungen vermeiden, wie ein internationales Team aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit Beteiligung des Instituts für Klinische Pharmakologie der Uniklinik RWTH Aachen zeigen konnte und letztes Jahr in der Fachzeitschrift Lancet publiziert wurde.

 „Die Einnahme vieler Medikamente kann nicht nur zu leichten unerwünschten Nebenwirkungen führen, sondern auch ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen“, warnt Univ.-Prof. Dr. med. Julia Stingl. Als Direktorin des Instituts für Klinische Pharmakologie an der Uniklinik RWTH Aachen ist sie auf die Untersuchung der Variabilität im Ansprechen und in den Nebenwirkungen von Therapien spezialisiert. „Durch die Forschung zur Pharmakogenetik und anderen Besonderheiten im Ansprechen auf Therapien bei einzelnen Patienten können wir Erkenntnisse gewinnen, wie Arzneimittel in unterschiedlichen Menschen wirken und welche Risikoprofile dazu führen können, dass unerwünschte Arzneimittelwirkungen Schaden anrichten“, erläutert die Expertin.  

Der Weg zu einer individuellen Arzneimitteltherapie

Um dem besser entgegenzuwirken, haben das Institut für Klinische Pharmakologie und die Klinik für Altersmedizin bereits vor zwei Jahren die Hochschulambulanz für Polypharmazie ins Leben gerufen. Im Rahmen der Polypharmazie-Sprechstunde arbeiten Ärztinnen und Ärzte aus den Bereichen der Inneren Medizin, der Altersmedizin und der Klinischen Pharmakologie sowie Spezialisten der Pharmakogenetik, die Variationen in der Arzneimittelwirkung aufgrund der genetischen Veranlagung prüfen, Apothekerinnen und Apotheker interdisziplinär zusammen, um einen pragmatischen Weg einer personalisierten – auf den individuellen Patienten zugeschnittenen – Arzneimitteltherapie zu gehen. Gemeinsam mit den Patientinnen und Patienten erarbeiten sie eine Anamnese aller eingenommenen Arzneimittel, Nahrungsergänzungsmittel und sonstiger regelmäßig eingenommener Präparate. Innerhalb der ambulanten Behandlung prüft das Team die Medikation ausführlich und gleicht sie mit der individuellen Situation des Patienten, dem Grund für die Verschreibung und den Diagnosen ab. 

Im Anschluss werden Empfehlungen für die Auswahl der individuell wirksamsten Medikamente sowie eine Dosisempfehlung gegeben. Die Ärztinnen und Ärzte aus der Klinischen Pharmakologie und der Altersmedizin erarbeiten gemeinsam Empfehlungen, um unnötige Arzneimittel, oder solche, die hinsichtlich ihrer Sicherheit bei diesem Patienten bedenklich erscheinen, abzusetzen. Zudem geben sie Hilfestellung für die Anwendung von Inhalationsgeräten, Tropfen, Insulin und Schmerzpflastern und empfehlen Hilfsmittel. 

Enge Abstimmung mit den Hausärztinnen und Hausärzten

Dafür ist insbesondere eine enge Zusammenarbeit und Partnerschaft mit den Niedergelassenen notwendig. Denn in den meisten Fällen kommen geriatrische Menschen nicht selbst in die Hochschulambulanz, sondern werden von Hausärztinnen und -ärzten überwiesen. Diese können Patientinnen und Patienten an die Hochschulambulanz verweisen, wenn sie eine pharmakologisch-geriatrische Zweitmeinung bei der Gesamtmedikation wünschen. „Unser wesentliches Ziel ist es, komplexe Therapien zu vereinfachen und individuell anzupassen. Wir treffen keine Entscheidungen für die Hausärzte und die Patientinnen und Patienten. Vielmehr analysieren wir die individuelle Polypharmazie und geben Empfehlungen an den behandelnden Arzt oder die behandelnde Ärztin weiter“, betont Prof. Stingl.

Zum Nachschauen

Mehr zum Thema Polypharmazie und dem Angebot der Aachener Hochschulambulanz für Patientinnen und Patienten, die von Polypharmazie betroffen sind, erfahren Sie im Video-Interview mit Prof. Stingl:

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