Die Pandemie ist eine Belastungsprobe für das deutsche Gesundheitswesen. Ganz Deutschland schaute Anfang des Jahres gebannt auf die Entwicklung in den Intensivstationen. Ein wenig zu kurz kam in der Berichterstattung, dass COVID-19 auch für die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte in den Praxen sowie die medizinischen Fachangestellten eine enorme Herausforderung ist. Schließlich waren sie es, die während der Hochphasen der Pandemie die ambulante Versorgung sicherstellten. Dr. med. Ivo Grebe, niedergelassener Internist und Vorstand der Kreisstelle der Ärztekammer Nordrhein im Stadtkreis Aachen, zieht im Interview ein erstes Zwischenfazit.
Herr Dr. Grebe, rund 18 Monate Pandemie liegen hinter uns, wie sieht Ihr bisheriges Fazit aus? Was waren die größten Veränderungen?
Dr. Grebe: Die Pandemie ist definitiv ein Stresstest für unser Gesundheitssystem. Für die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen standen über den Verlauf der Pandemie hinweg unterschiedliche Herausforderungen im Fokus. Zu Beginn fehlte schlicht genügend Wissen rund um das Infektionsgeschehen und die Erregerausbreitung, hinzu kam die unzureichende Versorgung mit Schutzausrüstung. Viele Patientinnen und Patienten vermieden aus Angst vor Ansteckung den Praxisbesuch, Vorsorgetermine wurden nicht mehr wahrgenommen. Um den Patientenkontakt aufrecht zu erhalten, mussten die Kolleginnen und Kollegen viel Zeit investieren, bauten Telefonkontakte und Videosprechstunden aus und erreichten so, dass die Grundversorgung nicht in Gefahr geriet. Daneben galt es, zeitnah auf wechselnde politische Beschlüsse, Empfehlungen des RKI und neue Vorgaben zu Abstrichen sowie geänderter Dokumentation und Abrechnungsregeln einzugehen. Viele Praxen hatten zudem ihre Terminvergabe grundsätzlich angepasst, um potenziell infektiöse von nicht-infektiösen Patientinnen und Patienten zu trennen. Wie sich jeder vorstellen kann, hinterlässt dies nachhaltige Spuren in Organisation und Ablauf einer Praxis, seien es Hygienemaßnahmen, das Monitoring oder die Videosprechstunde. Viele Standards sind nun neu gesetzt und werden auch künftig beibehalten werden.
Sie sind jetzt mit den Schutzimpfungen beschäftigt. So richtig Fahrt hat die Impfkampagne erst mit der Einbindung der Praxen aufgenommen, nicht wahr?
Dr. Grebe: So kann man das sehen, denke ich. Bereits einen Tag nach dem Start der Impfkampagne in den Arztpraxen wurden bundesweit über 306.000 Impfungen gegen das COVID-19-Virus dokumentiert, am Tag danach sogar knapp 326.000. Damit lagen die Arztpraxen sofort auf dem Niveau aller 433 Impfzentren in Deutschland zusammengenommen. Die haus- und fachärztlichen Kolleginnen und Kollegen kennen die Krankheitsprofile ihrer Patientinnen und Patienten zudem am besten und können so einen wichtigen Beitrag zur Steigerung der Impfbereitschaft leisten. Man sollte es als wechselseitige Ergänzung betrachten: Impfzentren und Praxen gemeinsam haben dafür gesorgt, dass wir mittlerweile im Vergleich zu unseren Nachbarländern gut dastehen. Ob wir das Ziel einer Impfquote von 80 Prozent erreichen, hängt unter anderem davon ab, wieviel Zeit, Logistik und personelle Ressourcen die Praxen aufbringen können. Viele arbeiten bereits jetzt am Limit, insbesondere die Medizinischen Fachangestellten (MFA) leisten Tag für Tag unendlich viel, um das Impfgeschehen erfolgreich abzuwickeln.
Was wünschen Sie sich für die Zeit nach der Pandemie?
Dr. Grebe: Eine Prognose zum Ende der Pandemie wage ich nicht, ich habe aber die Hoffnung, dass wir Mitte 2022 „pandemiefrei“ leben und arbeiten können. Wir müssen davon ausgehen, dass wir in diesem Herbst wieder steigende Fallzahlen haben werden. Wie hoch diese Zahlen letztlich sind, hängt entscheidend vom Erfolg, das heißt dem Tempo der Impfstrategie ab. Szenarien wie wir sie aktuell in Nachbarländern (Spanien, England, Portugal) sehen, können dadurch vermieden werden Für die Zukunft sind mir zwei Anliegen wichtig: die ausreichende Versorgung mit Schutzausrüstung und Impfstoffen sowie die konsequente Einbeziehung der Vertragsärzteschaft bei der Pandemiebekämpfung. Eine Situation wie im Frühjahr 2020 darf sich nicht wiederholen. Es müssen ausreichend Bettenkapazitäten in den Krankenhäusern vorgehalten werden, an Masken und Schutzkleidung darf kein Mangel sein, die Abhängigkeit von Auslandsproduktion und brüchigen Lieferketten darf nicht zu Engpässen führen. Unser duales Versorgungssystem der gut ausgebauten ambulanten Schiene mit Haus- und Fachärzten und der hochspezialisierten stationären Krankenhausbehandlung hat sich in der Pandemiebekämpfung bewährt. Für die Zukunft wünsche ich mir, dass niedergelassene Ärztinnen und Ärzte mit ihren Medizinischen Fachangestellten, Krankenhäuser mit ihrer Ärzteschaft und dem Pflegepersonal sowie der öffentliche Gesundheitsdienst noch besser kooperieren und gemeinsame Konzepte zur Pandemiebekämpfung entwickeln.