Uniklinik RWTH Aachen nimmt Stellung zur Kritik am Forschungsvorhaben „Vergleichende Forschung zu Anorexia Nervosa oder Magersucht“

Die Uniklinik RWTH Aachen nimmt die Diskussion um Tierschutz und Tierversuche sehr ernst und beteiligt sich aktiv an den laufenden ethischen Debatten. Vorwürfe der Tierquälerei und der ethischen Verwerflichkeit, die sich auf ein Forschungsvorhaben („Vergleichende Forschung zu Anorexia Nervosa oder Magersucht“) der Uniklinik RWTH Aachen beziehen, weist das Haus scharf zurück und kommuniziert die Argumente für die Versuchsreihe transparent und offen.

Der menschliche Körper ist äußerst komplex. Für die meisten der rund 30.000 Krankheiten des Menschen gibt es lediglich Behandlungen, die die Symptome mildern, ohne die Ursache zu beheben. Das Verstehen von Krankheiten und die stete Verbesserung von Heilungs- und Präventionsmethoden sowie die Erforschung der Grundlagen des Lebens gehören als international tätige Forschungseinrichtung zu unseren Kernaufgaben. Für viele derartige Fragestellungen gibt es oft keine Alternative zum Tierversuch. Die Uniklinik RWTH Aachen und die Medizinische Fakultät der RWTH Aachen führen diese daher in standardisierter Form durch, um die Ursachen für bestimmte Krankheitsbilder gezielter zu erkennen, medizinische Innovationen zu entwickeln und bestimmte Therapien und Wirkstoffe zu testen und zu verbessern. Als öffentlich finanzierte Einrichtung haben wir uns im Sinne unseres Leitbildes zur Transparenz bekannt und kommunizieren offen alle relevanten Fakten zum Thema Tierversuche (siehe FAQ-Katalog des Instituts für Versuchstierkunde).

Bedeutung und Schweregrad der Erkrankung Anorexia nervosa

Die WHO listet die Anorexia nervosa als eine der bedeutendsten Erkrankungen des Kindes- und Jugendalters auf (WHO 2005). Sie weist auf die dringende Notwendigkeit neuer Behandlungsmethoden hin. In einer großen deutschen Untersuchung an Patienten (n= 1.639), die wegen Anorexia nervosa stationär behandelt wurden, betrug die standardisierte Mortalitätsrate 5.35, die Sterblichkeit war also mehr als fünfmal so hoch wie bei entsprechenden Personen gleichen Alters. Die meisten Patienten starben im Alter zwischen 25 und 34 Jahren (Fichter et al. 2016), d.h. in einem sehr jungen Lebensalter. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine dänische Studie, die auf der Basis einer Metaanalyse von 36 Studien ein knapp sechsfach erhöhtes Sterblichkeitsrisiko gegenüber vergleichbaren Personen nachwies. Der Sterbeprozess einer jungen Patientin wird sehr eindrücklich in dem niederländischen Film „Emma will leben“ (Trailer) geschildert, der im letzten Jahr von 3Sat ausgestrahlt wurde.
Bei 15-24jährigen Patienten ist die Sterblichkeit ein Jahr nach Entlassung aus einer Behandlung wegen Anorexia nervosa sogar mehr als 11mal so hoch wie bei Gleichaltrigen (Hoang et al. 2014).Neben der erhöhten Sterblichkeit muss die erheblich eingeschränkte Lebensqualität der Patienten gesehen werden.
Fast die Hälfte (46 Prozent) einer Gruppe von schwedischen Patienten, die 30 Jahre nach Beginn der Magersucht im Jugendalter nachuntersucht wurden, wiesen noch eine psychische Erkrankung auf (Dobrescu et al. 2019). In der oben genannten Studie bei einer großen deutschen Stichprobe hatten nur 39 Prozent nach 20 Jahren keine Essstörung mehr (Fichter et al. 2017). Die Patienten unserer eigenen Langzeitstudie berichteten, dass ihnen die Erkrankung ihre „gesamte Jugend gestohlen“ habe (Herpertz-Dahlmann et al. 2001). Die schwedische 30-Jahres-Studie zeigt auf, dass die jungen Patienten im Durchschnitt 10 Jahre lang schwer krank waren (Dobrescu et al. 2019).

Die Häufigkeit von Selbstmordversuchen beträgt ungefähr 12 Prozent (Mandelli et al. 2019). In unseren Nachbarländern Belgien und den Niederlanden ist die Anorexia nervosa eine der häufigeren Gründe, warum ein assistierter Suizid in Erwägung gezogen wird (Tienpont et al. 2015). Die Patienten sind so verzweifelt, dass ihnen kein anderer Ausweg möglich erscheint.

Neueste Untersuchungen weisen darauf hin, dass die frühe Phase der Erkrankung, in der die Therapie am wirksamsten ist, zwischen einem und drei Jahren dauert. Danach sind die neuroprogressiven (=Hirn-)Veränderungen so ausgeprägt, dass Therapien weniger wirksam und schließlich (nach spätestens sieben Jahren) wirkungslos sind (Treasure et al. 2015; Robinson et al. 2019). Patienten werden immer rigider und verlieren die Fähigkeit, trotz ihrer meist hohen Intelligenz flexibel zu denken. Wir haben es deshalb als unsere Aufgabe angesehen, die Ursache dieser Hirnveränderungen zu erforschen, um therapeutisch schneller und besser wirksam werden zu können (s.u.a. die Doku Liebe Magersucht, 2016).

Dabei setzten wir zum einen auf genau die von Frau Zietek aus der Vereinigung „Ärzte gegen Tierversuche“ geforderten MRT-Untersuchungen an Patienten und konnten in der Tat deutliche Volumen- und Struktur-Veränderungen im Gehirn von Patientinnen mit AN feststellen (z.B. Seitz et al., 2015, Vogel et al., 2016). Deren zu Grunde liegende Mechanismen aufzuklären, ist jedoch nur im Tierversuch möglich, da Gehirnveränderungen auf mikroskopischer Ebene beim lebenden Menschen nicht untersucht werden können. Umgekehrt können Zell-Ersatzverfahren, wie die zitierten iPSCs, die Komplexität des Gehirnes noch nicht annähernd genug abbilden. Das von uns verwandte Tiermodell wird seit vielen Jahren und international angewandt (Schalla und Stengel 2018). Unsere Ergebnisse, die in wichtigen wissenschaftlichen Journalen publiziert werden konnten, haben aufgezeigt, dass die Hirnveränderungen vor allem auf einem Verlust der sog. Astrozyten beruhen, die für die Blutversorgung und Ernährung der eigentlichen Nervenzellen wichtig sind. Mögliche Verbesserungen der Therapie könnten in einer schnelleren Gewichtsrehabilitation (O`Connor et al. 2016) und der Anwendung neuropsychologischer Verfahren (Tchanturia et al. 2017), vor allem aber einer früheren Diagnostik und Therapie liegen!

Allerjüngste Arbeiten, an denen wir ebenfalls beteiligt sind, weisen darauf hin, dass die Anorexia nervosa nicht nur eine psychische, sondern auch eine Erkrankung des Stoffwechsels (metabolische Störung) ist (Watson et al., Nature Genetics 2019). Dies spricht umso mehr dafür, neue Wege der Forschung zu suchen, um diesen schwer erkrankten jungen Menschen wirksam zu helfen und ihnen eine höhere Lebensqualität zu ermöglichen. Bei vielen Fragestellungen sind Tierversuche hierfür leider immer noch die einzig mögliche Methode.

Zur konkreten Versuchsreihe

Anorexia Nervosa oder Magersucht ist die dritthäufigste chronische Erkrankung im Jugendalter und betrifft vor allem das weibliche Geschlecht. Etwa 0,5 bis ein Prozent aller Mädchen oder jungen Frauen erkranken im Laufe ihres Lebens, damit belaufen sich die diagnostizierten Fälle auf rund 10.000 pro Jahr, die Dunkelziffer dürfte entsprechend höher liegen. Anorexia Nervosa hat die höchste Sterblichkeit aller psychischen Erkrankungen. Ihre Entstehung ist bis heute nicht gut verstanden, auch nicht, warum sie bei so vielen Patientinnen einen chronischen Verlauf nimmt – und mit vielen Krankenhausaufenthalten und immer neuen Rückfällen verbunden ist. Bei einem Teil der jugendlichen Patientinnen treten Hirnveränderungen auf, die möglicherweise irreversibel sind und deren Ursache wir nicht genau kennen. Im Gegensatz zu früher weiß man heute, dass biologische Ursachen und Folgen des Hungerns für die Entstehung und den Verlauf der Magersucht eine wesentliche Rolle spielen. Nur durch Tierversuche können die zugrundeliegenden Mechanismen besser verstanden werden, um daraus wirksamere Therapieoptionen für Patienten mit Anorexia nervosa zu entwickeln. Dies gilt insbesondere auch im Hinblick auf die Entwicklung vieler anderer psychischer Erkrankungen wie Depressionen, Ängste und Zwänge, die im Verlauf des Lebens bei Menschen mit Anorexia nervosa häufig vorkommen. Das Activity Based Anorexia Tiermodell ist das international am weitesten verbreitete Tiermodell für Anorexia nervosa und kombiniert eine Futterreduktion mit der Verfügbarkeit eines Laufrades. Bestimmte Tiere (hier Wistar-Ratten) laufen bei Hunger vermehrt – ähnlich wie Patientinnen mit Anorexia nervosa, die einen Bewegungsdrang entwickeln. Sie zeigen weitere sehr ähnliche körperliche Veränderungen wie Gewichtsabnahme, Temperaturreduktion, den Verlust der Regelblutung und andere hormonelle Veränderungen. Damit werden sie als gutes Modell für die körperlichen Veränderungen bei der Magersucht angesehen, mit einer hohen Vergleichbarkeit zwischen Tier und Patient.

Mit der Versuchsreihe konnte eine Reihe von Erkenntnissen gewonnen werden

Die Forscher konnten in Versuchen mit diesem Tiermodell bereits nachweisen, dass auch hier das Gehirnvolumen um sechs bis neun Prozent reduziert ist, also ähnlich wie bei den Patientinnen. Auch bei Patientinnen wurden mit ihrem Einverständnis und dem der Eltern Magnetresonanzmessungen, also ohne Strahlenbelastung durchgeführt, mit denen aber nicht der Mechanismus der Hirnveränderungen aufgeklärt werden kann. Nur durch die Tierversuche konnte festgestellt werden, dass es im Gehirn zu einem starken Verlust an Astrozyten kommt. Diese Zellen ernähren, modulieren und unterstützen die Nervenzellen im Gehirn, ihr Verlust kann die Symptome von Patientinnen mit Anorexia nervosa erklären helfen. Ein wichtiges positives Ergebnis war zudem, dass eine Normalisierung des Gewichtes auch zu einer Normalisierung der Gehirnstrukturen und der Astrozytenzahl beiträgt – solange sie früh genug erfolgt. Des Weiteren konnten die Forscher zeigen, dass es auch im Tiermodell zu einem Verlust an Östrogen kommt, und dass dieser mit eingeschränkter Lernfähigkeit einhergeht. Dies kann die großen Schwierigkeiten von Patientinnen mit Anorexia nervosa erklären, von Psychotherapie zu profitieren und sich auf neue Verhaltensweisen einzulassen. Zellkulturmodelle wie z.B. sogenannte induzierte pluripotente Stammzellen (iPSCs) stellen aktuell noch keine komplette Alternative zu Tierversuchen dar. Sie können zwar bei der Erforschung der genetischen Grundlagen helfen, zurzeit jedoch noch keine komplexen Zusammenhänge wie Gehirnstrukturveränderungen oder Verhaltensmodifikationen bei Anorexia nervosa aufklären helfen.

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