Den Streptokokken auf der Spur – 25 Jahre Infektionsüberwachung in Aachen

Jeder hat sie, kaum einer bemerkt sie, nur wenige kennen sie im Detail: Streptokokken. Sie gehören zu den am weitesten verbreiteten Bakterien überhaupt und können eine breite Palette gefährlicher Krankheiten verursachen. Einer, der die Fähigkeiten und Besonderheiten dieser Krankheitserreger kennt und im Blick behält, ist Priv.-Doz. Dr. Mark van der Linden, Leiter des Nationalen Referenzzentrums für Streptokokken an der Uniklinik RWTH Aachen. Er hat Uniklinikintern die Labortüren geöffnet und einen Einblick in seinen spannenden und umfangreichen Arbeitsalltag gewährt.

Ein Jubiläum inmitten einer Pandemie: In diesem Jahr feiert das Nationale Referenzzentrum (NRZ) für Streptokokken am Institut für Medizinische Mikrobiologie an der Uniklinik RWTH Aachen sein 25-jähriges Bestehen. Es ist Teil eines Netzwerks von Referenzzentren und Konsiliarlaboren in Deutschland, das vom Robert Koch-Institut im direkten Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit zur bundesweiten Überwachung von Infektionen und Krankheitserregern ernannt wird. Hier am NRZ Aachen entbrannte 2004, damals noch als wissenschaftlicher Mitarbeiter, Dr. van der Lindens Leidenschaft an der Arbeit mit Streptokokken, die er ab 2007 als Leiter des Zentrums weiterverfolgte und bis heute beibehalten hat. „Auch wenn bereits einiges über Streptokokken und ihre Rolle als Krankheitserreger bekannt ist, bleibt es ein ständiges Lernen und Lehren. Wir stehen noch vor vielen Fragestellungen, die es zu lösen gilt“, so Dr. van der Linden. „Die Kunst der Wissenschaft ist es, die Wirklichkeit zu beschreiben, ohne dass man Einfluss darauf nimmt“, schwärmt er, fast schon philosophisch, von seiner Tätigkeit als Wissenschaftler und Epidemiologe.

Nationale Referenzzentren werden seit 1995 durch das Bundesministerium für Gesundheit berufen. Sie bündeln bundesweit das Wissen und die Erfahrung im Umgang mit bestimmten Infektionskrankheiten, oder sollen die Ausbreitung und Entwicklung wichtiger Krankheitserreger überwachen. Gegenwärtig sind 20 Nationale Referenzzentren und 37 Konsiliarlabore berufen, die alle drei Jahre begutachtet und evaluiert werden.

Streptokokken: Kenne den Feind

„In und auf unserem Körper beherbergen wir in etwa so viele Bakterien wie unser Körper Zellen hat“, so Dr. van der Linden. Streptokokken sind quasi überall um uns herum und zählen zu den Haupterregern von Infektionskrankheiten. Dennoch erkranken wir nur selten.  Wie kann das sein? „Die meisten Bakterien sind für den Menschen ungefährlich, einige sogar nützlich“, erklärt der Biochemiker. Wie beim Menschen unterscheidet man bei Streptokokken zwischen guten und bösen. „Zudem hat die Evolution den menschlichen Körper mit einem hocheffizienten Immunsystem ausgestattet, das Eindringlinge sofort erkennt, beseitigt und sich später sogar an sie erinnern kann.“ Das schützt den Körper vor Infektionen. „In der Regel funktioniert das auch, doch immer wieder finden Krankheitserreger ein Schlupfloch. Somit haben Bakterien über Jahrmillionen ein beachtliches Repertoire an Strategien entwickelt, mit denen sie dem menschlichen Körper und seinen Abwehrmechanismen immer einen Schritt voraus sind“, so der Zentrumsleiter.

Streptokokken, von denen mittlerweile 120 verschiedene Arten bekannt sind, werden in Gruppen unterteilt, die mit unterschiedlichen Infektionsformen assoziiert sind. Zu den drei häufigsten krankheitsauslösenden Streptokokkenarten zählen die Pneumokokken (Streptococcus pneumoniae), die Gruppe A-Streptokokken (Streptococcus pyogenes) und die Gruppe B-Streptokokken (Streptococcus agalactiae).

Pneumokokken besiedeln asymptomatisch die Schleimhäute im Nasen-Rachen-Raum, können aber aus diesem Reservoir heraus Mittelohrentzündungen (Otitis media), Lungenentzündungen (Pneumonie), Hirnhautentzündungen (Menigitis) und andere mitunter schwere Infektionen verursachen, von denen besonders Säuglinge, Kleinkinder sowie ältere und abwehrgeschwächte Personen betroffen sind.

Streptokokken der Gruppe A werden ebenfalls häufig bei Enzündungen des Mittelohrs (Otitis media), aber auch bei Infektionen der Nasennebenhöhlen (Sinusitis) und der Mandeln (Tonsillitis) isoliert. Auch die Kinderkrankheit Scharlach sowie progressive Haut- und Weichgewebsinfektionen wie die Nekrotisierende Fasciitis, die häufig mit Blutvergiftungen (Sepsis) bis hin zum Toxischen-Schock-Syndrom assoziiert sind, können durch A-Streptokokken ausgelöst werden. Weiterhin dürfen Folgeerkrankungen von invasiven Gruppe-A-Streptokokken Infektionen wie das Rheumatische Fieber oder die Postinfektiöse Glomerulonephritis nicht unerwähnt bleiben.

Streptokokken der Gruppe B spielen hingegen vor allem bei Schwangeren und Neugeborenen eine Rolle als Krankheitserreger. Beheimatet im weiblichen Urogenitalbereich werden die Bakterien in der Schwangerschaft zum Risiko, denn es besteht die lebensbedrohliche Gefahr, dass sich das Kind während der Geburt bei der Mutter ansteckt und im schlimmsten Fall an einer Neugeborenensepsis oder Hirnhautentzündung erkrankt, die nicht selten mit neurologischen Spätfolgen assoziiert ist. Als klassischer Erreger des Kindbettfiebers (Puerperalsepsis) stellen Gruppe-B-Streptokokken auch eine Gefahr für die junge Mutter dar.

Die Übertragung der Krankheitserreger erfolgt je nach Streptokokkenart durch Niesen und Husten (Tröpfcheninfektion), über direkten Kontakt mit infizierten Wunden oder während der Geburt von der Mutter auf das Kind (Schmierinfektion). „Kinder unter vier Jahren sind die bedeutendste Infektionsquelle für Erwachsene, denn sie tragen Pneumokokken im Rachen, ohne daran zu erkranken. Die Kinder können die Bakterien dann an ihr Umfeld weitergeben, was besonders bei älteren, immungeschwächten Menschen, wie beispielsweise den Großeltern, zu schwerwiegenden Infektionen führen kann", weiß der Wissenschaftler.

Mittels Antibiotika lassen sich glücklicherweise viele der Infektionen gut behandeln, doch immer häufiger werden Mediziner mit Keimen konfrontiert, die resistent gegenüber diesen Medikamenten geworden sind. Da kommt das Nationale Referenzzentrum für Streptokokken der Uniklinik RWTH Aachen ins Spiel, das bundesweit die Entwicklung und Verbreitung von Antibiotikaresistenzen bei Streptokokken überwacht und bei der Ursachenforschung und Problemlösung hilft.

Bundesweit Wissen bündeln: Überwachung wichtiger Infektionserreger

Der Umgang mit gefährlichen Krankheitserregern gehört für Dr. van der Linden und sein neunköpfiges Team am NRZ für Streptokokken zur Arbeitsplatzbeschreibung. Ihre Aufgabe ist nicht nur die epidemiologische Überwachung, Analyse, Bewertung und Erfassung der Resistenz- und Inzidenzentwicklung von Streptokokken, sondern auch die Entwicklung und Verbesserung diagnostischer Verfahren.

„Als Nationales Referenzzentrum führen wir unter anderem molekularbiologische Untersuchungen durch, um epidemiologische Zusammenhänge aufzuklären“, so Dr. van der Linden. Für die Überwachung der Streptokokkeninfektionen ist das Team auf die Mithilfe anderer Labore angewiesen. „Wir bitten medizinische Diagnostiklabore in ganz Deutschland, uns alle Streptokokken-Isolate zuzuschicken, die sich auf invasive Erkrankungen zurückführen lassen. Die Einsendungen, die wir dadurch erhalten, erfolgen auf freiwilliger Basis“, erklärt er. Dennoch ist die Bereitschaft zur Mitarbeit hoch: Rund 5.000 Isolate erhält das NRZ jährlich.

Im Labor werden diese Isolate dann genau unter die Lupe genommen. Nach aufwendigen, standardisierten Untersuchungen zur Erregerbestätigung sowie weiterführender Spezialdiagnostik und Feintypisierung der Isolate erhalten die Labore am Ende einen Befundbericht. „Das kann je nach Komplexität der eingesendeten Probe wenige Tage, in manchen Fällen aber auch mehrere Wochen in Anspruch nehmen. Unsere Analysen gehen weit über die Möglichkeiten normaler Diagnostiklabore hinaus“, schildert Dr. van der Linden.

Problemlösung im Hintergrund

Dass es auch mal etwas länger dauern kann, bis die Einsender eine Rückmeldung mit der Problemlösung vom NRZ aus Aachen erhalten, wirkt sich nicht negativ auf Dritte aus. „Unsere Arbeit beeinflusst die Behandlung von Patientinnen und Patienten nur indirekt“, betont Dr. van der Linden, und stellt klar: „Die Ergebnisse unserer Analysen dienen zwar auch der Verifizierung initial-diagnostischer Daten, nehmen jedoch keinen unmittelbaren Einfluss auf die Behandlungsentscheidung von Medizinern. Wir helfen dort, wo Andere nicht weiterkommen und lösen das Problem im Hintergrund.“

Alle eingeschickten Isolate, die das NRZ in Aachen erreichen, werden in mittlerweile fünf großen Tiefkühlschränken bei minus 80 Grad Celsius aufbewahrt. Über 100.000 Proben sind dort in jeweils doppelter Ausführung separat gelagert, darunter auch Isolate mit besonderen Eigenschaften und seltenen Resistenzen. So können nicht nur die Aachener Forscherinnen und Forscher jederzeit auf die Stammsammlung zugreifen, sondern die Bakterienisolate werden auch anderen Laboren weltweit für weiterführende Studien zur Verfügung gestellt.

Überwachung von Impfprogrammen

Viele Streptokokkeninfektionen können erfolgreich mit Antibiotika behandelt werden. „Manchmal kommt es jedoch vor, dass sich Resistenzen entwickeln. Diesem Problem gehen wir dann akribisch nach“, so Dr. van der Linden. Bei den Pneumokokken hat die Medizin noch ein weiteres „Ass“ im Ärmel. Seit 2000 stehen Konjugat-Impfstoffe
zur Verfügung, durch die die Erkrankungsrate bei Kindern durch invasive Pneumokokkeninfektionen bis heute fast halbiert werden konnte. Im Rahmen sogenannter Surveillance-Studien überwachen die Aachener Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Effektivität und Wirksamkeit dieser Impfstoffe. Nach Auswertung der Daten werden diese unter anderem an die Ständige Impfkommission weitergeleitet, wo sie die Grundlage der Impfempfehlung für Pneumokokken bilden.

Anlauf- und Beratungsstelle

Neben der Forschungsarbeit, der Beteiligung an epidemiologischen Studien und der Mitwirkung bei der Erarbeitung von Empfehlungen für Diagnostik, Therapie und Prävention werden vom Nationalen Referenzzentrum für Streptokokken an der Uniklinik RWTH Aachen auch wichtige Beratungsleistungen erbracht sowie eine regelmäßige Berichterstattung für das Bundesministerium und das Robert Koch-Institut. „Aber auch für andere Referenzzentren, niedergelassene Ärzte, Kliniken, Laboratorien, Forschungsinstitute und den Öffentlichen Gesundheitsdienst sind wir Anlauf- und Beratungsstelle bei infektionsbiologischen Fragestellungen rund um Streptokokken“, beschreibt Dr. van der Linden seinen Zuständigkeitsbereich. „Es kommt auch schon mal vor, dass uns nicht nur Anrufe von behandelnden Ärzten sondern auch von Privatpersonen erreichen, die Fragen zur Pneumokokken-Impfung haben. Auch wenn wir in solchen Fällen nur rein objektiv antworten dürfen, und Auskunft zur Epidemiologie geben, freuen wir uns immer, mit Rat und Tat zur Seite stehen zu können.“

Enge Vernetzung über die Landesgrenze hinaus

Ganz besonders schätzt der NRZ-Leiter die nationale und internationale Zusammenarbeit. Der gebürtige Niederländer sitzt in verschiedenen nationalen und internationalen Gremien und reist um die ganze Welt, um sich mit Fachkolleginnen und -kollegen auszutauschen. „Die molekularen Hintergründe bei Streptokokken-Erkrankungen sind weltweit gleich. Demgegenüber sind jedoch viele epidemiologisch relevante Aspekte wirtsabhängig und somit beeinflusst von geografischen, sozialen und genetischen Effekten. Es ist ein sehr wichtiges Thema. Hier geht es nämlich nicht nur um Impfeffekte, sondern in erster Linie um (Kinder-)Leben, die es zu schützen und zu retten gilt“, verdeutlicht Dr. van der Linden die Notwendigkeit seiner Arbeit.

Auswirkung der COVID-19 Pandemie

Auch wenn die tägliche Laborarbeit derzeit aufgrund der Pandemielage unter erschwerten Bedingungen ausgeführt wird, sieht Dr. van der Linden etwas Positives an der COVID-19 Pandemie: „Einige Streptokokkenarten werden, so wie das SARS-CoV-2, durch Tröpfcheninfektion übertragen. Durch coronabedingte Infektionsschutzmaßnahmen, Kontaktbeschränkungen und Lockdowns sind beispielsweise die Pneumokokken-Erkrankungen im letzten Jahr weltweit deutlich zurückgegangen.“ Am NRZ wurden im Jahr 2020 3199 invasive Pneumokokken-Erkrankungen gemeldet, 2021 waren es lediglich 1951 Fälle. Bei den nicht über Tröpfchen übertragenen Gruppe-B-Streptokokken wurde im gleichen Zeitraum hingegen kein Rückgang in der Einsendungen verzeichnet. Auch das Gesundheitsbewusstsein, nicht zuletzt in Bezug auf Impfungen, habe sich möglicherweise verändert – so die Hoffnung des Zentrumsleiters. „Denn die Annahme, Impfen sei nach wie vor Kindersache, ist fälschlicher- und fatalerweise immer noch weit verbreitet.“


Historie

Im Rahmen der Neustrukturierung der Infektions­epidemiologie in Deutschland werden seit 1995 verstärkt Nationale Referenzzentren (NRZ) zur Über­wachung wichtiger Infektionserreger berufen. Die Erstberufung vom Nationalen Referenzzentrum für Streptokokken am Institut für Medizinische Mikrobiologie an der Uniklinik RWTH Aachen erfolgte 1996, für eine Periode von drei Jahren, unter Leitung von Prof. Rudolf Lütticken. Anschließend übernahm Prof. Dr. Ralf René Reinert die Leitung des Zentrums, bis er 2007 dann schließlich von Dr. Mark van der Linden abgelöst wurde.


Bilder aus dem Nationalen Referenzzentrum für Streptokokken an der Uniklinik RWTH Aachen:
Priv.-Doz. Dr. Mark van der Linden leitet seit 2007 das Nationale Referenzzentrum für Streptokokken an der Uniklinik RWTH Aachen.

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